Verschuldensquote bei Überholerunfall

Verschuldensquote bei Überholerunfall

Will ein Motorradfahrer zwei vor ihm fahrende Fahrzeuge überholen und kommt es dann zum Unfall, weil das vor dem Motorrad fahrende Fahrzeug ebenfalls zum Überholen ansetzt, haften sowohl der Motorradfahrer wie auch der zum Überholen ausscherende jeweils hälftig, wenn kein überwiegendes Verschulden eines der Unfallbeteiligten festzustellen ist.

Eine alleinige Haftung ist nur in solchen Fällen gegeben, in denen entweder höhere Gewalt oder das überwiegende Verschulden eines der Unfallbeteiligten festgestellt werden kann.

Zu den Voraussetzungen an das verkehrsrichtige Verhalten hat das OLG Brandenburg mit Urteil vom 23.06.2011 (Az. 12 U 270/08) festgestellt, dass es einem Motorradfahrer zumutbar ist, „(nach Ausleitung einer Linkskurve) zunächst von seinem Überholvorhaben abzusehen, bis er sich sicher sein kann, dass das unmittelbar vor ihm fahrende Fahrzeug nicht seinerseits das Voranfahrende überholen möchte“.

Der vor ihm fahrende PKW Fahrer hat sich dabei nach Ansicht des OLG Brandenburg ebenfalls nicht verkehrsrichtig verhalten. Zwar konnte das Gericht nicht ausschließen, dass das Motorrad zum Zeitpunkt als der PKW Fahrer seinen Überholvorgang begonnen hat, sich im toten Winkel des PKW befand, „den toten Winkel seines Fahrzeuges muss der Fahrer jedoch kennen und durch wiederholte Rückschau unschädlich machen“.

Das OLG Brandenburg stellt weiter nochmals ausdrücklich klar, dass eine Berührung der unfallbeteiligten Fahrzeuge nicht Voraussetzung der Annahme eines Unfalls ist.

Nicht entscheidend ist dabei auch, ob die Ausweichreaktion des Motorradfahrers notwendig oder subjektiv vertretbar gewesen ist.
Ausreichend ist, dass der Unfall aus Anlass des Überholens stattgefunden hat.

Das Gericht führt zu den jeweiligen Verusachungsbeiträgen ind en Gründen seiner Entscheidung aus:

„Damit ist eine Abwägung der wechselseitigen Verschuldens- und Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmen, die hier zu dem Ergebnis führt, dass der Geschädigte (= der Motorradfahrer) einerseits und die Beklagten (der PKW Fahrer) andererseits aufgrund der jeweils zu berücksichtigenden Betriebsgefahr zu je 50 % für die entstandenen Schäden verantwortlich sind. Nach § 17 Abs. 1 StVG hängt die Schadenersatzverpflichtung von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere davon, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene oder nachgewiesene Umstände zu berücksichtigen.

Jede Seite hat dabei die Umstände zu beweisen, die der Gegenseite zum Verschulden gereichen und aus denen sie für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten möchte. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war von einer Verschuldenshaftung nicht auszugehen.

Hinsichtlich des Beklagten zu 2. kam ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 oder Abs. 4 Satz StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage oder Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs) in Betracht. Auf Geschädigtenseite war ebenfalls an einen Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO sowie gegen § 3 StVO (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) zu denken. Auch ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4a StVO (rechtzeitiges Ankündigen der Überholabsicht) kam in Betracht.

Unklar i.S.v. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist eine Verkehrslage, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden kann (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41 Aufl., § 5 StVO, Rn. 34). Findet die Vorschrift meist Anwendung, wenn es um die Verkehrs- und Umgebungssituation geht, die sich dem Überholwilligen vor oder direkt um ihn herum darbietet (vgl. die Rechtssprechungsbeispiele bei König a.a.O.), so ist nicht ausgeschlossen, dass sich für den Überholwilligen auch eine unklare Verkehrslage hinter ihm auftun kann, die ihm das Überholen untersagt. Denn es gibt keine klaren Regeln, wer im Kolonnenverkehr zuerst überholen darf.

Nähert sich z.B. von hinten ein Fahrzeug und diesem wiederum von hinten ein schnelleres Fahrzeug, so hat Überholvortritt, wer sich dem Vordermann so genähert hat, dass er zwecks Überholens ausscheren muss (König a.a.O., Rn. 40 m.w.N.). Wollen mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge überholen, so hat Vortritt, wer das zuerst anzeigt.

Maßgebend sind letztlich stets Verkehrslage und Überholweg (König a.a.O.). Zeigt sich bei der Prüfung, ob ein beabsichtigter Überholvorgang möglich ist, in der Rückschau (geboten nach § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO, wenn die bisherige Spur nicht nur unwesentlich verlassen werden muss) eine indifferente Verkehrsituation, so ist daher ebenso von einer unklaren Verkehrslage und damit einem Überholverbot nach § 5 Abs. Nr. 1 StVO auszugehen, wie in dem Fall, da sich solch eine unklare Lage vor dem Fahrer auftut.

Anderseits lässt sich aus der Rückschaupflicht vor dem Ausscheren keine Umkehrung der Verantwortlichkeit ableiten, die sich aus § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO für den Überholwilligen vor allem auf das Verhalten des zu Überholenden bezieht (Begr. zur StVO, § 5 zu Abs 4 und zu Abs. 3 Nr. 1). Die Rückschaupflicht besteht erstmals vor Einleiten des Überholvorganges, denn wer ausscheren will, muss sich vorher vergewissern, dass er dies ohne wesentliche Behinderung oder Gefährdung aufrückender Hintermänner tun kann (König a.a.O., Rn. 42).

Ein explizites, von der Rechtssprechung entwickeltes Gebot zur „doppelten Rückschau“ oder zum Schulterblick gibt es unabhängig von den Erfordernissen, die nötig sind, um eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bereits vor dem Ausscheren (und dann natürlich auch während des Ausscherens) auszuschließen i.S.v. § 5 Abs 4 Satz 1 StVO, allerdings nicht.

So war es nicht nur Pflicht des Beklagten zu 2. sich vor Einleitung seines Überholvorganges angemessen über den rückwärtigen Verkehr zu orientieren und ggf. vom Überholvorgang abzusehen, sondern es war auch Pflicht des Geschädigten, von seinem Überholvorgang abzusehen, wenn für ihn nicht klar sein konnte, dass der Beklagte zu 2. ihm dies auch gefahrlos ermöglichen würde.

Dabei fällt dem Geschädigten möglicherweise auch eine Überschreitung der im Unfallbereich zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h zur Last (die vom Sachverständigen zwar als wahrscheinlich angenommen und daher für die Berechnungen auch zugrunde gelegt wurde, indes nach dem Ergebnis seiner Begutachtung nicht feststeht).“